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Gedenken an 85 Jahre Novemberpogrome 1938 – Nie wieder ist Jetzt

An diesem Jahrestag erinnern und gedenken wir der Jüdinnen und Juden, die in den Novemberpogromen 1938 angegriffen, deportiert und ermordet wurden. Im ganzen damaligen Reichsgebiet griffen Menschen, organisiert und angetrieben von NSDAP und SA, Synagogen, Gemeinderäume, jüdische Friedhöfe, Geschäfte, und Wohnungen an. Und sie griffen Jüdinnen und Juden an. Es folgte in den Tagen danach eine Welle von Deportationen in Konzentrationslager. Es war der für alle sichtbare Übergang von antisemitischer Hetze, Diskriminierung und Herabwürdigung zur Tat, zur systematischen und auf Vernichtung zielende Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden in Europa durch die deutschen Nationalsozialisten. Meine Gedanken sind bei den Opfern und den wenigen Überlebenden des antisemitischen Furors von vor 85 Jahren.


Und sie sind bei den Jüdinnen und Juden, die heute, 85 Jahre nach dem Auftakt zum größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, Angst haben, auf die Straße zu gehen. Sich als jüdisch zu zeigen. Ihre Kinder in die Schule zu schicken. Hebräisch zu sprechen. In Deutschland und weltweit. Und sie sind bei den Menschen in Israel, die mit dem jüngsten, am 7. Oktober begonnenen Angriff der Hamas in bisher nicht dagewesener Weise in wirklich Allem erschüttert wurden. Die ihre Liebsten verloren haben und die um mehr als 200 Menschen, die von der Hamas als Geiseln genommen, wurden bangen, die um ihre Sicherheit als Jüdinnen und Juden fürchten müssen – in Israel, das als historische Notwendigkeit genau diese Sicherheit garantieren sollte, und weltweit.


Wir lesen heute viel „Nie wieder“ und „We remember“. Doch seit Jahren nimmt die Zahl antisemitischer Straftaten und Attacken zu. Erst vor genau einem Monat erinnerten wir an den antisemitischen Anschlag vom 9. Oktober 2019. An einem Tag wie heute und einen Monat nach dem größten Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah stellt sich die Frage, was „Nie wieder“ eigentlich heißt und erfordert. Es muss bedeuten, dass wir alles Notwendige tun, damit die Verbrechen an Jüdinnen und Juden sich nicht wiederholen. Es muss bedeuten, dass Jüdinnen und Juden sicher leben können. Es muss bedeuten, dass wir – als Gesellschaft – nicht erneut und nicht weiter antisemitische Taten aus unserer Gesellschaft heraus geschehen lassen. Denn, und das ist die Wirklichkeit, die wir sehen müssen, Antisemitinnen und Antisemiten sind Teil unserer Gesellschaft. Antisemitismus hat Platz in Deutschland, er hat entsetzlich viel Platz und er hat harte und oftmals grausame Folgen für Jüdinnen und Juden.


Antisemitismus lebt in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, er findet sich als christlicher Antijudaismus tief eingeschrieben in der Kultur, als fortlebender Bestand aus dem Nationalsozialismus auch im post-nationalsozialistischen Deutschland. Er existiert in Milieus die sich als links und progressiv beschreiben und er ist konstitutiv für die extreme Rechte. Antisemitismus ist weder in der alten Bundesrepublik noch in der DDR ausreichend verstanden, erkannt, aufgearbeitet und bekämpft worden. Antisemitismus existiert als islamistisch geprägter Antisemitismus in migrantischen Milieus. Neonazis feiern bis heute die Verbrechen der Deutschen an den europäischen Jüdinnen und Juden, arabische Jugendliche feiern heute die brutalen Angriffe auf israelische Jüdinnen und Juden. In Teilen von Kunst und Wissenschaft wird eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben, die sich von der extremen Rechten nur durch die Anknüpfungspunkte, nicht durch die Widerlichkeit unterscheidet. Gebildeter Antisemitismus bedient heute teils wortgleich dieselben Bilder, wie sie die Vordenker der nationalsozialistischen Verbrechen entworfen haben. In Teilen der Mehrheitsgesellschaft sehen wir ein Schweigen, das wir kennen. Und auch in demokratischen Parteien einen taktischen Umgang mit Antisemitismus, der ihn zu einem Problem nur der „Anderen“ machen will, statt ihn in den eigenen Reihen sofort und rigoros zu stoppen und jede Zusammenarbeit mit denen zu brechen, die Antisemitismus befördern und befeuern.


Es widert mich an, zu sehen, wie dieselben Leute, die kein Problem bei Aiwanger sehen wollten, so tun, als könne Deutschland sein Antisemitismusproblem durch Abschiebungen lösen. Es macht mich fassungslos, wenn Leute, die sich als links verstehen behaupten, die Hamas wären Verbündete im Kampf um Freiheit und Israel ein Apartheitsregime. Es raubt mir den Atem, wenn ich sehe, wie Menschen Poster israelischer Geiseln verhöhnen und abreißen oder Süßigkeiten zur Feier des Angriffs auf Israel verteilen. Es ist an Schäbigkeit und Bigotterie kaum zu überbieten, wenn vom Kampf gegen Antisemitismus gesprochen wird, aber der Kampf gegen Grundrecht auf Asyl – im Übrigen eine der Lehren des Grundgesetzes aus den Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus – gemeint ist. Wenn islamistischer Antisemitismus verschwiegen oder ignoriert wird.


Der Kampf gegen Antisemitismus muss immer ein Kampf gegen jeden Antisemitismus sein. Jeder Antisemitismus muss auf unseren Widerstand treffen. Mehr, viel mehr, als bisher. „Nie wieder“, das ist jetzt. Das ist schon immer jetzt. Dass Teile von Politik und Gesellschaft dies bisher nicht sehen wollten, ist gleichermaßen Ausdruck von und Ursache für die Wirkmacht, die Antisemitismus bis heute hat. Der Kampf gegen Antisemitismus muss weiter durchgehalten werden als einen Nachrichtenzyklus. Denn es ist ein Kampf gegen tiefsitzende Strukturen und ein Kampf, der gerade deswegen geführt werden muss, weil es nicht um die „anderen“ geht, sondern um unsere Verantwortung als Teil dieser Gesellschaft.




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