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Gedenken an den Anschlag vom 9. Oktober 2019 muss Handlungsauftrag sein


Es ist nötig einen Blick auf die Ereignisse des letzten Jahres zu werfen, um zu erfassen wo wir heute im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus stehen. Ende letzten Jahres wurde das Urteil im Prozess gegen den extrem rechten Attentäter gesprochen. Der Halle-Prozess zeichnete sich insbesondere durch die intensive Arbeit der Nebekläger:innen aus, sie haben Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft aufgezeigt, die Erfahrung der Untätigkeit von Behörden die viele Betroffene machen – geschildert und die Entwicklung rechten Terrors beleuchtet. Sie übten auch vehemente Kritik an der Arbeit der Polizei. Parallel hat sich ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit dem Polizeieinsatz am Tag des Anschlags, den Gefährdungsanalysen die dazu führten, dass am höchsten jüdischen Feiertag kein Polizeischutz für die Synagoge vorgesehen war und dem Umgang mit den Überlebenden des Anschlags beschäftigt.


Während dieses begonnenen Aufarbeitungsprozesses erschütterten mehrere Antisemitismus-Skandale in der Polizei: Im Sommer zerstörte ein Polizist in Halle Beweismittel, als ein aus Papier gefaltetes Hakenkreuz vor der jüdischen Gemeinde abgelegt wurde. Im Herbst wurde öffentlich, dass in der Bereitschaftspolizei antisemitische und abwertende Bezeichnungen für einen Kantinenbetreiber über Jahre hinweg gebräuchlich waren. Weitere anonyme Mails wiesen auf rassistische, antisemitische und rechtsextreme Haltungen und Äußerungen im Polizeiapparat hin. Der damalige Innenminister suggerierte mit Äußerungen zum Schutz jüdischer Gemeinden, diese seien Schuld daran, dass es in Sachsen-Anhalt zu wenig Polizist:innen in anderen Einsätzen gebe.Gleichzeitig wurden bei zahlreichen Coronaleugnerdemos auch in Sachsen-Anhalt Opfer des Nationalsozialismus verhöhnt, die Schoah relativiert, antisemitische Verschwörungsideologien verbreitet und Menschen angegriffen. Viel zu oft nutzten Polizei und Versammlungsbehörden nicht alle ihnen zur Verfügung stehenden, rechtlich zulässigen Mittel, um den von diesen Demonstrationen ausgehenden Gefahren zu begegnen und davon Bedrohte zu schützen. Allein dieser kurze Rückblick auf das letzte Jahr zeigt: Sachsen-Anhalt und Deutschland haben ein massives Antisemitismus- und Rassismus-Problem.


Schauen wir auf die Konsequenzen aus den in Prozess und Untersuchungsausschuss gewonnen Erkenntnissen und der Arbeit der eingesetzten Sonderkommission zur Untersuchung von institutionellem Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, bleibt es bei einer bitteren Bilanz. Die angekündigte Studie zu rassistischen und antisemitischen Einstellungen in der Polizei wurde gecancelt, stattdessen gibt es einen „Extremismusbeauftragten“ bei der Polizei. Schon der Begriff zeigt, dass Antisemitismus und Rassismus als randständige Phänomene beschrieben würden, obwohl sie auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft vorkommen, was Studien seit Jahren belegen. Ob jemals eine der Empfehlungen der Sonderkommission umgesetzt werden wird, ist auch heute völlig unklar. Nach wie vor müssen sich Menschen, die gegen Nazis protestieren und deswegen angegriffen werden von Vertretern von Behörden aber auch der Politik die Schuld dafür zuschreiben lassen. Nicht selten trifft sie auch noch Polizeigewalt.


Wie seit Jahren berichten die Opferberatungsstellen im Land von dramatischen Defiziten im Umgang mit politisch motivierter Kriminalität bei den ermittelnden Stellen. Auch heute, zwei Jahre nach dem Anschlag, vielen Worten des Gedenkens und vielen angekündigten Maßnahmen werden Betroffene rassistischer, antisemitischer, homophober und frauenfeindlicher Gewalt oftmals nicht ernst genommen, werden ihre Rechte ungenügend durchgesetzt, rechte Tatmotive nicht anerkannt, führen Prozesse eher zu weiterer Belastung für die Betroffenen als zur Ausschöpfung der rechtlich möglichen Strafmaße für rechte Täter. Noch immer ist eine grundlegende Überprüfung der Arbeit und der Instrumente der Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung rechten Terrors überfällig. Noch immer gibt es zwar viele Gedenkworte, aber wenige konkrete Maßnahmen. Noch immer werden Antisemitismus und Rassismus als Phänomen vermeintlicher politischer Ränder begriffen, nicht aber als gesamtgesellschaftliches Problem.


Wir gedenken der Getöteten und Verletzten, wir denken an Jana L. und Kevin S. und ihre Familien und Freund:innen, an die Traumatisierten und Verwundeten. Wir versichern ihnen wie allen Betroffenen rechter Gewalt unsere Solidarität und Unterstützung. Und wir sind der Überzeugung, dass wer Gedenken ernst meint, endlich entschlossen handeln muss und Polizeiarbeit- und kultur kritisch überprüfen, die Strafverfolgung intensivieren, Betroffene besser schützen, gesellschaftlichen Rassismus und Antisemitismus und deren Wirkung auf die Entwicklung rechten Terrors mit einer Enquetekommission des Landtages untersuchen und die demokratische Zivilgesellschaft stärken muss.


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